Römerzeit: im Vielvölkerreich
Spätestens seit dem Alpenfeldzug von 15 v.Chr. und bis ins 5. Jahrhundert n.Chr. ist das Gebiet der heutigen Schweiz zum ersten Mal Teil eines grossen, komplexen politischen Gebildes: des Römischen Reiches. Ursprünglich ein Stadtstaat in Mittelitalien erobert Rom seit dem 3. Jahrhundert v.Chr. Italien und danach die Mittelmeerländer. Die Armee, eine zentrale Verwaltung, eine offizielle Sprache (Latein), eine homogene Gesetzgebung, die Einheitswährung sowie ein leistungsfähiges Strassennetz verleihen dem Staat eine Jahrhunderte währende Stabilität.
Mit der Angliederung der heutigen Schweiz ans Reich verschwinden hierzulande die aus der Eisenzeit stammenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen nicht einfach. Vielmehr nutzen die Römer sie nach bewährtem Muster: Loyale keltischstämmige Adlige behalten ihren Status weitgehend, sorgen für politische Stabilität und werden zu Trägern der Romanisierung und Teil einer im ganzen Reich vertretenen Oberschicht, einer Art Reichsadel.
Augenfälliger Ausdruck der Veränderung ist die Gründung von Städten im klassischen Sinn und deren Ausstattung mit repräsentativen Bauten. Letztere findet man auch in bestimmten kleineren Siedlungen (sog. Vici). Ab der Mitte des 1. Jahrhundert n.Chr. setzt sich zudem die Steinbauweise durch, verdrängt aber die traditionelle Fachwerktechnik nie ganz.
Wirtschaftliche Basis bleibt die Landwirtschaft. Daneben werden erstmals Güter – z.B. manche Keramiksorten – in Massenproduktion hergestellt. Sie werden über grosse Distanzen und in erheblichen Mengen verhandelt, ebenso wie z.B. Wein, Öl, Getreide etc. Die Geldwirtschaft auf der Basis einheitlicher Münzen setzt sich nun im Raum der heutigen Schweiz durch, was den Güteraustausch entscheidend erleichtert.
Die Bevölkerung besteht zum grossen Teil aus den Nachfahren der eisenzeitlichen Kelten. In einem gewissen Umfang gelangen Menschen aus anderen Teilen des Reiches in das Gebiet der heutigen Schweiz: Verwaltungspersonen, spezialisierte Handwerker, Sklaven sowie Soldaten, die nach Ende der Dienstzeit hier bleiben. Sie bringen Glaubensvorstellungen und Kulte mit, die neben die althergebrachten, nun z.T. mit römischen Gottheiten verschmolzenen keltischen Götter treten.
Die Zugehörigkeit zum Römerreich bedeutet eine kulturelle Annäherung an das Mittelmeergebiet; ältere Traditionen vermögen sich aber über Jahrhunderte zu halten, so z.B. in der Kleidung und beim Kochgeschirr.
Politisch ist die heutige Schweiz auf 5 Provinzen verteilt. Graubünden und das Gebiet östlich von Pfyn gehört mit Bayern und Westösterreich zur Raetia, das übrige nordalpine Gebiet zunächst zur Belgica, dann zur Germania Superior und schliesslich zum heutigen Südostfrankreich. Genf ist der nördlichste Ort der Provinz Gallia Narbonensis (Rhonetal/Südfrankreich). Das Wallis ist mit dem Gebiet der Westalpenpässe verbunden, und das Tessin sowie die Südalpentäler werden Italien zugerechnet.
Der Kaiser – entfernt und doch nah
Im römischen Reich ist der Kaiser mit seiner Verwaltung der Machtträger. Er übt seine Herrschaft mittels der Provinzgouverneure sowie mit Hilfe der ihm unterstellten Armee aus. Für die Menschen ist er fast nur durch den Kaiserkult und als Münzbild präsent.
Erst ab dem ausgehenden 3. Jahrhundert presst der Staat die Menschen in ein enges Vorschriftenkorsett.
Städte, Ortschaften, Gehöfte
Kristallisationskeime der Romanisierung sind Städte, die nach römischem Idealplan entworfen werden: Nyon, Augst und Avenches. Alle drei haben ein schachbrettartiges Strassenraster sowie die üblichen «Standardbauten»: Forum mit Haupttempel und Handels-/Gerichtshalle (=Basilika). Hinzu kommen jeweils ein Amphitheater sowie in Augst und Avenches ein Theater. Eines der kulturellen «Mitbringsel» der Römer sind die Thermen, d.h. Badeanlagen mit einem Heiss-, einem Lauwarm- und einem Kaltwasserbecken. Auf den von den Strassen umschlossenen Gevierten, den Insulae, stehen in der Regel mehrere, aneinandergebaute Häuser unterschiedlicher Grösse. In den strassenseitigen Räumen sind oft Handwerksbetriebe oder Verkaufsläden untergebracht. In gemauerten Wasserleitungen, sog. Aquaedukten, wird über Kilometer Frischwasser herangeführt und mit Teuchelleitungen verteilt. Typisch für Kleinstädte (Vici) sind langschmale Häuser entlang einer einzigen oder von zwei Strassen, mit Läden an der Strassenseite und einem Hinterhof mit Vorratsgruben, mitunter Töpferöfen u.ä.m.
Die Landschaft wird geprägt von Gutshöfen unterschiedlichster Grösse. Häufig sind kleine Gehöfte mit einem oder zwei Gebäuden, spektakulärer aber die grossen Güter mit einem ausgedehnten, luxuriös ausgestatteten Wohntrakt für die Besitzerfamilie und einem davon abgetrennten Wirtschaftsteil mit Bauten für das Gesinde, Scheunen, Ställen, Remisen und Backstuben etc.
Das sogar über Alpenpässe befahrbare, gut ausgebaute Strassennetz ist ein potenter Verkehrsträger. Erhalten haben sich z.B. in Arch (BE) Teile des geschotterten Strassenkörpers, andernorts gibt es Karrengeleise. Daneben werden Waren selbst auf kleinen Flüssen transportiert.
Viel Getreide, wenig Fleisch: die Ernährung
Im Schweizer Mittelland werden zahlreiche Nutzpflanzen angebaut. Mengenmässig am wichtigsten sind Gerste, Dinkel, Rispenhirse, Ackerbohnen, Linsen und Erbsen. Neue Nutzpflanzen sind u.a. der Walnussbaum, die Zwetschge, die Weinrebe, die Kirsche, die Birne und der Kohl. Rinder sind zunächst Arbeitstiere und werden erst in fortgeschrittenem Alter geschlachtet. Das wichtigste reine Fleischtier ist das Schwein; daneben werden Ziegen, Schafe, Hühner, Gänse und vereinzelt Hirsche gezüchtet. Aus Milch wird Käse produziert. Grundnahrungsmittel ist die «puls», ein Getreidebrei. Dazu wird Gemüse gegessen. Fleisch, Wild und Fisch kommt hauptsächlich bei Reichen auf den Tisch, zusammen mit Importwein, Würzsaucen und eingemachten Köstlichkeiten aus anderen Reichsteilen, z.B. Feigen, Datteln, Austern, Oliven etc. Weniger Begüterte leisten sich Fleisch von älteren Rindern, Schweinen, Ziegen und Schafen, mitunter von Pferden. Reiche legen sich in speziellen Esszimmern zu Tisch, einfache Leute essen sitzend, in der Küche.
Handel und Handwerk
Die benötigten Alltagsutensilien, Hausrat und Landwirtschaftsgerätschaften stellt man entweder selber her oder kauft sie beim lokalen oder regionalen Handwerker. Deshalb steht z.B. das Alltagsgeschirr in keltischer Tradition. Importiert – und z.T. nachgeahmt – wird namentlich das feine Tafelgeschirr, die sog. Terra Sigillata. Einheimische Handwerker beziehen Glasblöcke und verarbeiten sie zu Gefässen (und Perlen?). Inschriften nennen zudem Spezialisten, deren Namen die Herkunft aus anderen Reichsteilen verraten: Goldschmiede, Augenärzte und Töpfer etc.
Römer? Kelten? eine Mischkultur?
Mehr als zwei Jahrhunderte lang wird zwischen «Bürgern» (= mit römischem Bürgerrecht) und «Fremden» (= Einheimische ohne römisches Bürgerrecht) unterschieden. Während dieser Zeit wird zuerst romtreuen keltischen Adligen, später ehemaligen Stadtbeamten und Soldaten das begehrte Bürgerrecht verliehen. Durch Kaiser Caracallas Edikt von 212 n.Chr. werden alle freien Männer zu Vollbürgern – und müssen Steuern zahlen. Unter den Sklaven gibt es solche, die von ihren Herren freigelassen werden können, rechtlich aber schlechter gestellt sind als frei geborene Bürger. Rechtsstatus und Wohlstand brauchen nicht übereinzustimmen. Manche Sklaven und Freigelassenen sind sehr vermögend und übernehmen bestimmte, kostspielige Ämter oder stiften Denkmäler.
Frauen sind zwar als Mütter hoch angesehen, spielen aber im öffentlichen Leben nur punktuell eine Rolle. Stammen sie aus Adelsfamilien, können sie Priesterinnen des Kaiserinnenkultes werden. Auch freigelassene Frauen sind mitunter wohlhabend, wie Grabinschriften zeigen.
Amts- sowie militärische Kommandosprache ist im Westteil des Reichs Latein. Keltisch bleibt als ungeschriebene Sprache bis in die Spätantike lebendig. Die Kinder der Elite lernen bei Privatlehrern schreiben und lesen, Rhetorik, Literatur usw. Weniger Hochgestellte sind des Schreibens mehr oder weniger kundig. Holztäfelchen aus dem Legionslager Windisch, Reste von Soldatenbriefen, zeigen die wichtige Rolle des Militärs bei der Verbreitung des Lateins.
Die Kleidung spiegelt das Nebeneinander von Alt und Neu ebenfalls wieder: Keltische Trachtelemente werden getragen, ebenso mediterrane, die Toga allerdings nur von Reichen bei Festanlässen.
Von Teutates und Jupiter zu Christus
Die antiken Religionen sind fast alle polytheistisch. Zwanglos kommt es immer wieder zu Verschmelzungen von ursprünglich unterscheidbaren Göttern. In Rom wird zwischen öffentlichen und privaten Kulten unterschieden. Jupiter, der oberste Gott, gehört klar in die öffentliche Sphäre. Er hat auf dem Forum der Stadt einen Tempel nach mediterranem Vorbild, mit Treppe, Säulen, einem Giebel und einer Cella. In einheimischer Tradition stehen kleine, quadratische Tempel mit einem Säulenumgang, wie sie z.B. in Augst (BL), in Thun-Allmendingen (BE), Studen (BE) und Lausanne-Vidy (VD) nachgewiesen sind. Hier werden ursprünglich keltische Gottheiten verehrt. Vereinzelt sind die sie darstellenden Statuetten erhalten. Sie unterscheiden sich z.T. in nichts von mediterranen Gottheiten, und sie sind nur dank Inschriften als keltisch zu erkennen. Von der Volksfrömmigkeit zeugen Votivgaben, u.a. Tonfiguren, die in Massen hergestellt und verhandelt wurden.
Eingewanderte, vor allem Soldaten, bringen Kulte aus anderen Reichsteilen mit, die z.T. hier Fuss fassen. Der bedeutendste dieser fremden Kulte gilt dem persischen Gott Mithras.
Seit der Mitte des 4. Jahrhunderts verbreitet sich das Christentum hierzulande, wie Zeugnisse belegen: Inschriften und Christogramme, später zudem Reste von Kirchen (Chur, Kaiseraugst, Martigny, Genf).
Komplexe Totenriten
Die Toten werden im 1.-3. Jahrhundert entweder ausserhalb der Siedlungen körperbestattet oder verbrannt und danach die Asche beigesetzt. Säuglinge werden nicht selten in und um Häuser beerdigt. Die Toten werden in ihrer Kleidung bestattet. Erhalten haben sich nur Metallteile wie Gürtelschnallen, Fibeln (Sicherheitsnadeln) und Schuhnägel etc. Zudem werden in unterschiedlicher Menge Beigaben ins Grab gestellt: Speisen und Getränke, eine oder mehrere Münzen, öfters Schmuck, manchmal Lampen und vereinzelt Werkzeuge und Toilettengeräte.
Vermögendere Familien lassen Grabsteine aufstellen, auf denen Lebensdaten, Verdienste und Bedeutung der oder des Verstorbenen geschildert werden. Einzelne erhalten sogar monumentale Grabmäler wie die zwei einst rund 25 m hohen in Avenches-En Chaplix (VD).
Mit dem Christentum überwiegt ab dem 4. Jahrhundert die Körperbestattung. Grabbeigaben werden spärlicher, bleiben aber bis ins frühe 5. Jahrhundert üblich.
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