Jungsteinzeit: die ersten Bauern
Mit dem Jahrhunderte dauernden Übergang von der Mittel- zur Jungsteinzeit sind grundlegende Änderungen verbunden: Ackerbau, Viehzucht und Sesshaftigkeit. Daneben bleiben Jagd und Sammeltätigkeit wichtig. Die Wurzeln dieser neuen Wirtschaftsform sind nicht in Europa zu finden, sondern im Gebiet zwischen Euphrat und Tigris, dem sogenannten fruchtbaren Halbmond. Dort beginnen die Menschen vor etwa 10'000 Jahren, Wildgetreidesorten zu kultivieren und anzubauen sowie wilde Schafe und Ziegen zu domestizieren und in Herden zu halten - was zwangsläufig zu einer sesshaften Lebensweise führt. Landwirtschaft und dorfartige Siedlungen verbreiten sich darauf hin rasch vom vorderen Orient über die Mittelmeerküsten und das Donautal bis nach Mitteleuropa. Sie verdrängen nach und nach die Jäger- und Sammlergesellschaften der Mittelsteinzeit – soweit sich letztere nicht kulturell anpassen.
Die ältesten jungsteinzeitlichen Siedlungsspuren im heutigen Gebiet der Schweiz wurden im Norden (Fundstellen Bottmingen-Hechtliacker BL und Gächlingen-Goldäcker SH), im Nordwesten (Liestal-Hurlistrasse BL), im Tessin (Bellinzona-Castel Grande TI) und im Wallis (Sion-Planta VS) gefunden. Sie stammen aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrtausends v.Chr. Aus der Zeit um 4800 v.Chr. stammen die ältesten heute bekannten jungsteinzeitlichen Reste aus dem Kanton Graubünden (Zizers-Friedau).
Nicht nur «Pfahlbauten»
Neben den Landsiedlungen gibt es jungsteinzeitliche Dörfer im Bereich von Seeufern und Mooren. Die ältesten erhaltenen Reste dieses Siedlungstyps stammen aus der Zeit um ca. 4300 v.Chr. Solche Dörfer sind unter der Bezeichnung «Pfahlbauten» seit dem 19. Jahrhundert sehr populär (siehe auch zu diesem Thema die Sonderausgabe der Zeitschrift «as. archäologie schweiz» 2004: «Auf den Spuren der Pfahlbauer»). Allerdings sind mit diesem Begriff falsche Vorstellungen verbunden, sowohl was das Aussehen solcher Dörfer angeht als auch was die Dauer der Besiedlung betrifft. Zum ersten Punkt: Häuser stehen im Uferbereich, aber auf dem Land. Zum Schutz gegen periodisch auftretende Hochwasserstände, etwa bei Schneeschmelze, können sie leicht vom Baugrund abgehobene Böden aufweisen. Sie über dem Wasser, auf einer Plattform stehend zu rekonstruieren, wie das bei manchen Siedlungen in Südostasien und in Westafrika z.T. noch heute der Fall ist, wäre falsch.
Auch was die Lebensdauer eines Dorfes angeht, sind gängige Vorstellungen korrekturbedürftig: Ein jungsteinzeitliches Seeuferdorf besteht meist nur wenige Jahrzehnte; danach wird es aufgegeben und an einer anderen Stelle innert weniger Jahre ein neues Dorf gebaut.
Das scheinbare zeitweise Fehlen von Seeufersiedlungen schliesslich darf nicht zum Schluss führen, die Menschen hätten manchmal am Seeufer, manchmal aber nur fernab von den Gewässern gesiedelt: Wegen der längerfristigen, von der Klimaentwicklung abhängigen Seespiegelstände sind aus gewissen Zeitabschnitten (Jungsteinzeit, Teile Frühbronzezeit, Spätbronzezeit) Dörfer erhalten geblieben, während andere durch die Erosion vollständig verschwunden sind. Insgesamt sind die Ufer unserer Seen aber zweifellos seit der Jungsteinzeit ununterbrochen bis heute besiedelt.
Eine lange kulturelle Entwicklung
Das gute Chronologiegerüst (s. auch «Wie bestimmen Archäolog/innen das Alter von Funden?») erlaubt es, die jungsteinzeitlichen Kulturen der Schweiz untereinander zu vergleichen. Dabei werden verschiedene Regionen mit unterschiedlichen kulturellen Kontakten erkennbar. So bestehen z.B. enge Beziehungen zwischen jungsteinzeitlichen Dörfern aus der Westschweiz und Frankreich, aus dem Tessin und Oberitalien sowie aus der Deutschschweiz und dem oberen Donauraum bzw. Süddeutschland. Von einem prähistorischen «Röstigraben» zu sprechen, ist aber wenig sinnvoll, da immer wieder Perioden mit intensivem Austausch zwischen dem Osten und dem Westen der Schweiz auszumachen sind.
In der Zeit von 3500 bis 2800 v.Chr. blüht die Horgener Kultur zwischen Bodensee und Genfersee. Horgener Siedlungen finden sich nicht nur an Seeufern und in Moorgebieten, sondern auch im Hinterland und auf gut geschützten Anhöhen. Grossflächige Grabungen (z.B. Fundstellen Arbon-Bleiche 3 TG, Sutz-Lattrigen-Riedstation BE, Zürich-Mozartstrasse) haben Dörfer mit 30 bis geschätzten 100 rechteckigen, ca. 4.8 m grossen Häusern zum Vorschein gebracht, die sehr regelmässig in Reihen und Zeilen angeordnet sind. Je nach Bodenbeschaffenheit und Überschwemmungsgefährdung haben die Gebäude einen ebenerdigen oder abgehobenen Boden.
Über die aufgehenden Konstruktionen der Wände und Dächer wissen wir wenig, da die jungsteinzeitlichen Dörfer oft durch Hochwasser und Brände völlig zerstört werden. Anhand von verziegeltem Lehmverputz und einzelnen Bauteilen aus Holz können Flecht- und Bretterwände nachgewiesen werden. Ein massives, 65 cm breites Weisstannenbrett mit Zapfen aus Wetzikon-Robenhausen (ZH) ist die bis heute einzige überlieferte Türe aus der Jungsteinzeit und wird deshalb bei sämtlichen Hausrekonstruktionen beigezogen. Über Fenster wissen wir nichts. Als Dachbedeckungen werden Riedgras, Stroh, Schilf und Brettschindeln diskutiert; nachgewiesen sind bis heute jedoch nur Schindeln.
Wirtschaftsweise
Anhand unzähliger Pflanzenreste und Tierknochen gelingt es, die Wirtschaftsweise und den Speisezettel der jungsteinzeitlichen Dorfbewohner zu rekonstruieren. Der bedeutendste Eckpfeiler der produzierenden Wirtschaftsweise war der Getreideanbau: Gerste, Einkorn, Emmer und Hartweizen («Spaghettiweizen») sind nachgewiesen. Daneben wurden Lein, Schlafmohn und Erbsen kultiviert. Anbau, Ernte und Verwertung sind durch entsprechende Funde nachgewiesen: Mit Hacken und einfachen, von Ochsen gezogenen Holzpflügen, wie ein Joch aus Ahorn von Arbon-Bleiche 3 (TG) nahelegt, werden die Felder bestellt. Geerntet wird das Getreide mit Feuersteinmessern, die mit Birkenteer in Holzgriffe eingeklebt sind. Die ältesten Radfunde datieren in die Horgener-Kultur: Wird die Ernte mit einachsigen Karren in die Siedlung gebracht? Auf steinernen Handmühlen (Mahlplatte und Läufer) verarbeitet man die Körner anschliessend zu Mehl. Angebrannte Krusten an Töpfen sowie verkohlte Brötchen geben Zeugnis von der jungsteinzeitlichen Koch- und Backkunst. Zur Kücheneinrichtung gehören eine geschützte Herdstelle, ein Feuerzeug aus Markasit oder Pyrit, Feuerstein und Zunder sowie Kochtöpfe aus gebranntem Ton, Holzschalen, Körbe und Vorratsgefässe.
An Haustieren sind Rind, Schwein, Schaf, Ziege und Hund belegt. Kotreste aus den Siedlungen zeigen, dass die Tiere zumindest teilweise im Dorf gehalten werden. Es sind aber in der Jungsteinzeit auch Waldweide und Alpwirtschaft nachgewiesen. Über den Winter werden die Tiere mit getrocknetem Laub gefüttert, da grossflächige Grasfluren noch fehlen. Nebst Fleisch werden Häute, Knochen, Sehnen, Milch und vielleicht bereits Wolle genutzt.
Die Sammeltätigkeit (Haselnüsse, Beeren, Pilze usw.), die Jagd sowie der Fischfang bereichern den Speisezettel und können bei Missernten von existenzieller Bedeutung sein. Gerade in Perioden, für die Klimaverschlechterungen nachgewiesen sind, nimmt der Jagdanteil stark zu. Hauptbeute ist der Rothirsch, dessen Geweih zudem für die Werkzeugherstellung begehrt ist. Aber auch Wildschweine, Auerochsen, Rehe, Vögel usw. werden erlegt.
Effiziente Ressourcennutzung
Betrachtet man die Fundinventare aus der Jungsteinzeit von der technologischen Seite, so fallen immer wieder die guten Materialkenntnisse der Handwerker und Handwerkerinnen sowie die optimale Ausnutzung der verfügbaren Rohmaterialressourcen auf: Steinbeile fertigt man aus zähem Felsgestein (z.B. Serpentinit), Messer, Bohrer und Pfeilspitzen aus dem sehr harten, aber brüchigen Feuerstein (Silex). Für hölzerne Beil- und Hackenstiele nutzt man vorwiegend Esche und Buche, für Pfeilschäfte die geraden Zweige des Wolligen Schneeballs, für Pfeilbögen Eibe, für Tassen und Schalen Maserknollen von Obstgehölzen oder Ahorn. Der Ton für Keramikgefässe wird mit silikatischen Magerungskörnern (u.a. zerklopfter Gneis, Feldspäte) angereichert, um ein Zerspringen der Töpferwaren beim Brennen in Gruben zu verhindern.
Aus Baumbast und Lein stellen die Menschen Textilien her. Die ursprünglich wohl eingefärbten Fasern werden mit Spindel und Spinnwirtel (tönernes Schwungrad) zu Fäden versponnen und anschliessend auf Standwebstühlen zu Stoffen verarbeitet. Von den Webstühlen haben sich meistens nur noch die tönernen Webgewichte, welche die vertikalen Kettfäden spannten, erhalten. Konzentrationen solcher Geräteteile zeigen, dass die Webstühle oft in den Hausecken stehen. Nebst Stoffkleidern nutzt man Felle und Häute der geschlachteten bzw. gejagten Tiere. Mit dem einzigartigen Fund der Eismumie «Ötzi» ist eine komplette Lederbekleidung aus der Zeit um 3300 v.Chr. überliefert. Die Schuhe aus Bären- und Hirschleder hatte der «Mann aus dem Eis» gegen die Kälte zusätzlich mit Gras ausgestopft.
Klein und vom Leben gezeichnet: die Menschen
Über die jungsteinzeitlichen Menschen selbst wissen wir wenig. Skelettreste von einigen hundert Bestatteten aus der Schweiz zeigen, dass die Leute etwa 150 bis 165 cm gross und selten mehr als 40 Jahre alt wurden. Zudem ist die Kindersterblichkeit hoch. Die mittlere Lebenserwartung beträgt 20-25 Jahre. In den Fundschichten von Siedlungen findet man vereinzelt kleine Tonfigürchen, Miniaturgefässe, Modelleinbäume und eigenartig geformte Steine, die wohl als Spielzeuge dienten und so das Leben der damaligen Kinder zumindest erahnen lassen. Wahrscheinlich müssen die Kinder aber schon früh im harten Alltag der Erwachsenen mithelfen.
Arthrose, vereinzelt Karies sowie Atemwegserkrankungen (die Lunge von «Ötzi» ist stark verrusst durch die ständige Rauchbelastung der Herdfeuer) sowie mehr oder weniger gut verheilte Knochenbrüche vermitteln ein Bild von Krankheiten und Unfällen. Die Zähne sind oft stark abgeschliffen, weil das Mehl mit Gesteinsstaub der Handmühlen vermischt war. Dieses unbeabsichtige «Zähneputzen» verhinderte eine nennenswerte Kariesbildung.
Ein komplexes Weltbild
Sorgfältige Bestattungen in Steinkisten, unter Grabhügeln oder in Urnen sowie Grabbeigaben zeigen, dass in der Jungsteinzeit unterschiedlichste Totenkulte bestehen. Die zahlreichen Amulette wie Anhänger aus Tierzähnen oder Hundepfoten, aber auch Felszeichnungen und Steinsetzungen (Menhire), zeugen zudem von komplexen Weltbildern, Religionen und kultischen Zeremonien, in welche die jungsteinzeitliche Bevölkerung eingebunden war. Ihre Deutung ist aber sehr problematisch, da schriftliche Überlieferungen aus dieser Zeit vollständig fehlen.